Der gotische Westlettner
Das Langhaus endet vor dem Westlettner, einem der bedeutendsten Werke
der mittelalterlichen Architektur und Kunst. So wie der romanische Ostlettner
des Doms, schließt der Westlettner den dahinterliegenden Chorraum
von der Gemeindekirche ab, nicht aber als sperrender Riegel, sondern als
Pforte, die den Durchgang gewährt. Der Westlettner war, und das unterscheidet
ihn von seinem Pendant im Osten, eine Art Kirchenfassade, die den besonderen
Status des Westchores als eigenständige Kirche betonte. Ihn durften
zunächst nur Geistliche der älteren Stiftskirche benutzen. In
seinem Aufbau und der verwendeten Schmuckformen ist er der kostbarste
der Lettner des Mittelalters.
Die Ornamentik seiner Kapitelle zählt zu den schönsten, die
die frühe Gotik hervorgebracht hat. Als Vorbilder bei der Gestaltung
dienten heimische Pflanzen, Kräuter und Baumblätter. Es dominieren
Weinlaub, Haselnußblätter, Lerchensporn und Beifuß. Die
naturalistische Blattornamentik geht im allgemeinen auf französische
Formen zurück. Es gibt keine Pflanzendarstellung des Mittelalters,
die diese Naumburger an Natürlichkeit und Feinheit der Durchbildung
übertreffen.
Blätter, Blüten und Früchte lassen sich in jedem Einzelfall
exakt bestimmen, so daß die Annahme, der Bildhauer habe nach der
Natur gearbeitet, naheliegt. Der Westlettner besitzt, und darin unterscheidet
er sich von allen Lettnern, ein großes Figurenportal, nicht nur
zwei kleine Pforten wie deutsche Lettner üblicherweise. Der Naumburger
Meister gestaltete den Lettner wie eine Kapellenfassade, in deren
Mitte die Kreuzigungsgruppe als Eingang zum Chor steht.
Andere Unterschiede erklären sich alle aus der Absicht, dem Nachfolgebau
der Ekkehardingschen Stiftskirche einen eigenen und zugleich repräsentativen
Eingangsbereich zuzuordnen, um die Erinnerung an diese zu bewahren. Die
Lettnerbühne wird von einem Fries mit Darstellungen zum Passionsgeschehen
geschmückt und so zu einem großen lesbaren Szenarium für
das Volk.. Die Reliefs an der Brüstung zeigen von Süden beginnend
das Abendmahl, die Auszahlung der Silberlinge, die Gefangennahme, die
Verleugnung des Petrus, eine Wächterszene und die Handwaschung des
Pilatus. Die beiden nachfolgenden Reliefs mit der Geißelung und
der Kreuzigung sind barocke Ergänzungen in Holz nach altem Vorbild.
Dramatischer Abschluß der Leidensgeschichte ist der Tod Christi
am Kreuz, begleitet von Maria und Johannes am Gewände des Portals.
"Noch nie zuvor ist der Gekreuzigte in der Kunst so menschlich nahe gebracht
worden". Der Todeskampf Christi und das Leid seiner Mutter und des Lieblingsjüngers
werden schonungslos realistisch gezeigt. Die Naumburger Passion vermittelt
ein neues Maß an Einfühlung und Identifikation mit dem biblischen
Geschehen. Unter dem Einfluß der antidogmatischen Mystik ist Christus
nicht mehr der Triumphator, sondern der Menschenbruder, der am Kreuz einen
grausamen Tod erleidet. Seine Züge sind nicht geprägt von Herrschaft
und Repräsentation, sondern von Leben und Leiderfahrung. Auch die
Gottesmutter Maria und der Apostel Johannes zeigen tiefsten menschlichen
Schmerz. Die Aufstellung der Kreuzigungsgruppe im Lettner ist für
die damalige Zeit ungewöhnlich, hingen bis dahin die Triumphkreuze
hoch über Lettner und Chorschranke. In Naumburg bildet der Mittelpfosten
des Portals den Kreuzstamm, der Türsturz den Kreuzbalken. Wer also
den Chor betreten will, muß unter den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten
hindurchgehen. Die Passionsreliefs und die Kreuzigungsgruppe des Westlettners
rücken das dramatische Geschehen der Osterwoche als das Schicksal
von Menschen in den Blickpunkt. Das Giebelfeld über dem Portal zeigt
in Fresko und mit Stuck den Weltenrichter zwischen zwei Engeln mit Leidenswekzeugen.
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